Am Vorabend der Verlegung der „Stolpersteine“ in Efringen-Kirchen erläuterte der Initiator und Künstler Gunter Demnig im Museum in der Alten Schule die jahrzehntelange Entwicklung der Aktion. Von den Schicksalen seiner Vorfahren, der Familien Bräunlin, Olesheimer und Weil, berichtete Robert Bräunlin, während Axel Huettner, der viel über das Leben der Juden in Efringen-Kirchen recherchiert und veröffentlicht hat, die Familie Bloch vorstellte.
In Kirchen lebten Juden, wie in vielen badischen Gemeinden, lange in guter Nachbarschaft mit anderen Dorfbewohnern – bis der Nazi-Terror dem ein Ende setzte. Den Menschen, die unter diesem Regime gelitten haben und den Ermordeten ihre Namen und Würde wiederzugeben, vorzugsweise dort, wo sie ihr letztes freigewähltes Zuhause hatten, das sei das Ziel der „Stolpersteine“ rekapitulierte Marion Caspers-Merk als Sprecherin der Aktion in Efringen-Kirchen zu Beginn des gut besuchten Abends.
Das Wiedererstarken rechtsradikalen Gedankenguts, vermehrte Angriffe auf Juden, die Notwendigkeit des Polizeischutzes für Synagogen sowie zunehmende Hassreden in sozialen Netzwerken zeigten, wie wichtig es sei, mit bürgerlichem Engagement dagegen zu halten, die Demokratie zu stärken und die Gräueltaten der Nazis nicht zu vergessen. Deshalb freue es sie, dass sich genügend Spender für das Verlegen der Steine gefunden haben und dass sich der Arbeitskreis Geschichte des Schulzentrums Efringen-Kirchen an der Aktion beteiligt. „Ohne bürgerschaftliches Engagement geht es nicht“, betonte Caspers Merk, die auch der Bürgermeisterin Caroline Holzmüller und den Bauamtsleiter Ulrich Weiß für die Unterstützung dankte. Der Gemeinderat hatte zuvor lange und kontrovers über die Stolpersteine diskutiert – mit dem Ergebnis, dass in Efringen-Kirchen als bislang einzige Gemeinde auch die heutigen Anwohner der Verlegung der Steine zustimmen müssen.
Er freue sich über jeden Stein, der dazukommt, betonte auch der Aktionskünstler und Initiator der „Stolpersteine“, Gunter Demnig – obschon der Hintergrund kein Grund zur Freude sei. Rund 105 000 Steine sind seit Beginn der Aktion im Jahr 1996 mittlerweile in 31 europäischen Ländern verlegt worden, der nördlichste in Hammerfest in Norwegen, wo ein versteckter Jude an die Gestapo verraten wurde. Demnig, der in der Regel nur bei den ersten Verlegeaktionen dabei ist, hat mit den Jahren viele Erfahrungen gesammelt: Dass es Angehörigen der Opfer wichtig ist, dabei zu sein, selbst wenn man aus Tasmanien nach Köln reisen muss. Dass junge Leute sich heute noch fragen, wie es zu einem Völkermord im „Land der Dichter und Denker“ kommen konnte und dass es nur drei Orte gab, an denen Schulen nicht mitmachen wollten. Dass Menschen, die in jungen Jahren über die Kindertransporte ins Ausland gerettet werden konnten, aber Mütter, Väter und Großmütter in Konzentrationslagern verloren, mit den Stolpersteinen einen Ort und einen Grund finden, wieder nach Deutschland fahren zu können. Aber auch das gehört zu Demnigs Erfahrungen: Dass 900 Steine herausgerissen und manche mutwillig beschädigt wurden und dass er drei Morddrohungen bekam.
Ausführlich ging Demnig, der 1955 mit seiner Mutter nach Westberlin geflohen ist und eigentlich Pilot werden wollte, auf seinen beruflichen Werdegang und die Entwicklungsgeschichte der Stolpersteine ein: Das 23 Semester währende Studium der Kunstpädagogik mit den ersten Kunstaktionen noch in Berlin, später als Assistent in Kassel und als freischaffender Künstler. Manches hat ihm Ärger mit Behörden eingebracht. Denn einen politischen Hintergrund hatten seine Aktionen immer, verdeutlichte der Künstler, der früh zum „Arbeiten mit der Schrift“ fand. Das Auflisten aller Friedens- und Freundschaftsverträge seit 2000 vor Christi, wobei er die Daten Buchstabe für Buchstabe in Metall einschlug, war die Grundlage für die „Stolpersteine“. So wie auch eine Tafel für 1000 deportierte Sinti und Roma. „Ohne die Aktionskunst gäbe es die Stolpersteine nicht“, betonte Demnig. dem diese – allesamt handgefertigt – längst zum Lebenswerk geworden sind.
In Efringen-Kirchen sollen die ersten acht Steine der Anfang einer ganzen Reihe sein, betonte Marion Caspers-Merk. Insgesamt 50, davon zwei in Istein für Opfer der Euthanasie, sollen es am Ende sein. Für 30 Steine gibt es bereits Spender.
Aus dem Leben der Familien Bräunlin, Olesheimer und Weil erzählte anschließend der Nachfahre Robert Bräunlin, dessen Großvater Herbert lange Jahre als Zeitzeuge aus den Erfahrungen in der Nazi-Zeit berichtete. Als getaufter Halbjude, seine Mutter Ida, geb. Olesheimer war eine Jüdin, überlebte er – von Freunden versteckt – den Nazi-Terror und starb 2017 mit 94 Jahren. Mutter Ida, ihr Bruder Jonas, die Großmutter Emma Olesheimer und deren Schwester Lina Weil aber kamen in Konzentrationslagern um. Ein bewegendes Foto, das Ida Bräunlin und Emma Olesheimer gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern in der Dorfstraße 41 in Kirchen zeigt, verdeutlichte, wie Juden einst in guter Nachbarschaft in Kirchen gelebt haben.
Auch schräg gegenüber des Gasthauses „Anker“ und unweit der Synagoge wohnten Juden, die Familie Bloch etwa. Axel Huettner zeigte das Foto einer unbeschwerten Kinderschar aus dem Jahr 1932. Mit im Bild: Paula und Alexander Bloch, die Kinder Julius und Sophie Bloch. Sie betrieb einen Gemischtwarenladen in Kirchen. 1938 musste die Mutter den Laden nach den Schikanen der Nazis aufgeben und später auch das Haus in der Basler Straße verlassen. Sie wurde nach Gurs und von dort nach Auschwitz deportiert. Beide Kinder aber überlebten die Nazi-Herrschaft, allerdings nur mit Hilfe beherzter Menschen, die ihnen die Flucht ermöglichten. Paula gelang dies sogar aus dem Lager Gurs. In Basel lernte sie 1945 Walter Epstein kennen, den sie 1946 in New York heiratete. Ihr Bruder Alexander verdankt sein Leben Georgine Gerhard, die mit ihrer „300-Kinder-Aktion“, junge Menschen aus der Grenznähe bei Schweizer Familien unterbrachte. Auch er reiste 1946 in die USA aus, arbeitete als Arzt in New York. Zu beiden Bloch-Geschwistern konnte aber keine Verbindung mehr aufgebaut werden, bedauerte Huettner.
Veröffentlicht in: Die Oberbadische vom 08.11.2023
Wie schnell geschätzte Mitbürger zu Ausgegrenzten und Ausgelöschten werden können, daran erinnern seit Mittwoch elf weitere Stolpersteine in Kirchen. In Istein wurde zwei Euthanasie-Opfern ihre Würde zurückgegeben.
Die Verlegung 13 weiterer Stolpersteine des gleichnamigen Arbeitskreises war am Mittwoch eine ergreifende, von Gemeinderäten, Anwohnern, Bürgermeister-Stellvertreter Karl Rühl sowie weiteren Gästen begleitete und von Oboist Otto Hildebrand sensibel umrahmte Aktion. In der aktuellen Zeit, in der antisemitisch motiviere Straftaten sowie Hass und Hetze im Internet zunehmen, sei es wichtiger denn je, Opfer des NS-Regimes dahin zurückzuholen, wo sie zuletzt selbstbestimmt lebten, sagte die Sprecherin des Arbeitskreises, die frühere Bundestagsabgeordnete und Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Viele Akteure, darunter das Bauamt mit Ulrich Weiß an der Spitze, die Verwaltung, der Werkhof, sowie zahlreiche Rechercheure und Spender aus der Bürgerschaft hätten dies möglich gemacht.
Die Ausführungen von Axel Hüttner zeigten, dass der tief im Dorf verwurzelten älteren Generation der rechtzeitige Absprung seltener gelang als der jüngeren. Ein Beispiel dafür geben Samuel Moses I., seine Frau Rosa Moses geborene Braunschweig sowie ihre drei Kinder Siegfried Moses, Thekla Bloch geborene Moses und Norbert Moses. Für sie und für Theklas Ehemann David Bloch verlegten Werkhofleiter Horst Scheurer und Werkhofmitarbeiter Mathias Beutemann vor der Basler Straße 37 je einen Stolperstein.
Samuel Moses I, Viehhändler, Feuerwehrmann, sowie einige Jahre Vorsteher der jüdischen Kultusgemeinde und seine Frau Rosa Moses-Braunschweig, beide in Kirchen geboren, blieben bis 1939 vor Ort. Sie wurden dann nach Konstanz evakuiert, von dort nach Gurs und schließlich nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurden. Ihre drei Kinder sowie David Bloch emigrierten 1937, beziehungsweise 1938 in die USA, wo sie unterschiedliche Karrieren einschlugen. Die zweite Ehefrau von David Bloch, Irene Bloch, besuchte später Kirchen.
Einige der älteren Anwohner wie etwa Rudi Krebs erinnerten sich noch an die Familie Moses und mit Rolf Meyer aus Bremgarten im schweizerischen Kanton Aargau wohnte auch ein direkter Nachkomme der Verlegung bei. Sein Großvater Nathan Moses, 1888 in Kirchen geboren, war ein Vetter von Samuel Moses I. Er hatte ein historisches Familienfoto aus glücklichen Tagen mitgebracht.
An der Friedrich-Rottra-Straße 48 stand einst das stattliche Anwesen von Viehhändler Leopold Braunschweig und seiner Frau Rebekka Braunschweig, geborene Olesheimer. In diesem lebten auch ihre beiden Töchter Margot Braunschweig und Johanna Marque, geborene Braunschweig sowie Rebekkas Mutter Henriette Olesheimer. Sie alle erhielten auf je einem Pflasterstein ihre Namen zurück. Leopold Braunschweig zog bereits 1933 mit der Familie nach Saint Louis. Kurzzeitig kehrte die Familie aber noch einmal nach Kirchen zurück, bevor sich Flucht- und Lebenswege der Familienmitglieder endgültig trennten. Margot Braunschweig gelang das Versteckspiel der anderen nicht: Sie wurde in Auschwitz ermordet.
Leopold Braunschweig unterhielt große Stallungen in Kirchen, beschäftigte eigene Knechte und war einer der ersten Kirchener, die ein Auto besaßen. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg, aktiver Feuerwehrmann in Kirchen und hoch gebildet. Als der hebräischen Sprache Mächtiger, war er Kantor mehrerer jüdischer Gemeinden. Nach dem Krieg scheiterte sein Versuch, sich in Steinen wieder eine Viehhandlung aufzubauen.
Gedenken an Euthanasie-Opfer
Den Recherchen von Wilfried Bussohn ist es zu verdanken, dass in Istein auch zwei Euthanasie-Opfer aus der Vergessenheit geholt werden konnten. Vor dem Haus "In der Vorstadt 8" erhielt Otto Brändlin einen Stolperstein. Er war laut Aussage von Roland Brändlin (sein Großvater war der Bruder Otto Brändlins) gutmütig, schaffig, ohne körperliche Einschränkungen, aber geistig etwas zurückgeblieben. Er wurde von der Heil- und Pflegeanstalt Rastatt zunächst nach Zwiefalten und dann nach Grafeneck verlegt, wo er noch am Ankunftstag in einer mobilen Tötungsanlage vergast wurde. Die jetzige Hausbesitzerin Barbara Plattner gab gerne ihr Einverständnis, denn auch in ihrer Familie war Euthanasie ein Thema. Ihr gehandicapter Onkel Manfred konnte nur dank des beherzten Eingreifens der Oma vor der Vernichtung bewahrt werden. Gekommen zur Verlegung waren auch Erika Ruf, deren Vater Otto Brändlins Bruder war und Rolf Brändlin, Großneffe Otto Brändlins, der selbst im Haus in der Vorstadt 8 aufwuchs. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr Maria Bertha Brändlin, die in der Fischerau 17 zuhause war, wo nun ein Stolperstein an sie erinnert.
Mit falschen Ankündigungen, fiktiven Todesdaten, Todesorten und Todesursachen verschleierten die Nazis, dass sie Menschen wie Otto und Maria Bertha Brändlin systematisch töteten, weil sie nicht in ihr wahnhaftes arisches Weltbild passten. Sprachlos machte auch Bussohns Bericht, dass die Täter später kaum belangt wurden. Mit Worten Bernhard Speths, ehemaliger Direktor des St. Josefshauses Herten, schloss er seine Ausführungen: "Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst."
Dem Bedürfnis, sich vertiefend auszutauschen, konnte im Vereinsheim des SV Istein nachgekommen werden. Dort stellte Andrea Menne von der Schopfheimer Stolperstein-Initiative das Buch "108 Leben" über das Schicksal der Euthanasie-Opfer der Pflegeanstalt Wiechs vor. Über weitere Mitstreiter würde sich der Arbeitskreis freuen.
Veröffentlicht in der Badischen Zeitung vom 10.10.2024
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